Diese Woche ging ich durch München und sah sehr viel Obdachlose und Bettler, es tut mir so leid die Leute so zu sehen und zu wissen, dass ich ihr Leid nur ein wenig und für eine kurzen Moment lindern kann. Später ging ich in die U-Bahn. Im U-Bahn-aufgang lagen 30-40 Obdachlose auf Decken in Schlafsäcken, ich war entsetzt: Ist es jetzt schon so schlimm in Deutschland? Dann wurde ich aufgefordert auf die Seite zugehen, es wurde gerade ein Film mit Statisten über diese scheinbar obdachlosen Menschen gedreht, für wen, für was ich weiß es nicht.
Abends hatten wir eine kleine Adventsfeier, Deutschland spielte Fußball, natürlich „musste“ trotz Adventsstimmung wenigstens kurz das Fernsehtheater eingeschaltet werden, einige müssen wenigstens kurz sehen, ob die Deutschen noch weiterspielen „dürfen“ im Fußballtheater. Mir fallen die römischen Kaiser ein, die das Volk durch die Spiele im Kolosseum ablenken wollten von allen möglichen politischen Intrigen. In den Zeitungen sind derzeit Bilder zu sehen vom Kronprinzen von Saudi-Arabien, der sich mit allen möglichen Politikern ablichten lässt. Starben nicht beim Stadionbau 6500 (Quelle Guardin) bis 15000 Arbeitsmigranten (Quelle: amnesty international). von denen die das Gräuel der Arbeitsmigranten überleben ganz zu schweigen. War da nicht der Fall Kashoggi und all die Empörung? Alles vergessen? Es ist ein seltsames Theater, das derzeit aufgeführt wird.
Im Dezember kommt das Weihnachtstheater, das ich ganz gerne mag, mein kindliches Herz freut sich an den Spieluhren, den Lichtern, dem Plätzchenduft… an dem kleinen Stück heile Welt, das in der Krippe mit den Hirten sichtbar wird. Im Dezember wird viel gespendet, die Menschen besinnen sich ein bisschen: vielleicht wäre es ja doch sinnvoll besser mit allen anderen Wesen umzugehen, gütig und ehrlich mit sich selbst und mit den anderen zu sein. Die Fernseh- und Radiosender versuchen ihr Image mit Spendengalashows wieder aufzupolieren und die Superreichen laden zu manchen Benefiz-Gala-Veranstaltungen ein. Schnell werden ein paar Spenden überwiesen, damit das Gewissen beruhigt ist; und dann nach Sylvester kann es ja wieder weitergehen das Nationaltheater, Medientheater, Fake Theater, Machttheater, Parteientheater, Kriminaltheater, Pressetheater, Medizintheater, Kriegstheater, Staatstheater, Waffentheater, Konkurrenztheater, Geld- und Börsentheater, Sensationstheater, Terroristentheater, Umwelttheater, Moraltheater, Promitheater, Pandemietheater, ganz zu schweigen von dem Alltagstheater, das in vielen Beziehungen und Familien inszeniert wird.
Müssen wir wirklich dieses ganze Theater veranstalten? Die Soziologen Erving Goffman und George Herbert Mead begründeten im letzten Jahrhundert den symbolischen Interaktionismus. Sie stellten fest, dass Menschen sich mit Ihrer Rolle identifizieren, sie werden praktisch eins mit ihren Rollen und geben damit jeder Interaktion, die sie in dieser Rolle aufführen eine Wichtigkeit. Symbole wie Kleidung, Gesten und Mimik, Worthülsen, Sprachstil, Körperhaltungen, werden erlernt und geben den Rollen die entsprechenden Bedeutungen. Die beiden Wissenschaftler stellte fest: Wir spielen alle Theater.
Ja das kann ich nur bestätigen, ich erlebe ja dieses Theater in wechselnden Rollen/Generationen seit meiner Kindheit. Wenn Menschen und Tiere an diesem Theater leiden macht es mich sehr traurig. Wenn es nur wieder grotesk ist, wie im Kabarett amüsiere ich mich über das kostenlose Alltagstheater. Ich habe in meinem Leben festgestellt: Ich muss nicht jede Rolle und jedes Theater mitspielen. Es stimmt, die Menschen wundern sich manchmal, wenn da jemand das Theater nicht so wie gewohnt mitspielt. Manche machen sich auch gegenseitig darauf aufmerksam ihre Rollen korrekt zu spielen. Theaterspieler müssen unbewusst das Theater, das gerade aufgeführt wird mitspielen, weil ihre Person, ihr Ansehen und die Rollen, die sie spielen untrennbar miteinander verbunden sind. Freie Menschen sind sich bewusst, dass Menschen in allen Kulturen, Nationen, Religionen und Familien Theater spielen. Freie Menschen können sich entscheiden, wann sie Theater spielen, welche Rollen sie einnehmen, wie sie diese Rollen spielen und warum sie diese Rolle lernen, annehmen und wieder ablegen. So leben viele freiwillige und viele unbewusste Theaterdarsteller im Welttheater und spielen ihre Rollen. Das Schöne ist jeder darf auch immer wieder mal ein bisschen aus der Rolle fallen, Theaterspieler gewöhnen sich auch daran, wenn jemand aus der Rolle fällt und wenn nicht alle Spiele mitgespielt werden. Der entscheidende Vorteil, wenn das ganze Theater bewusst wird, dann können Menschen beobachten und entscheiden: Will ich in das Theater gehen, in das die meisten gehen? Muss ich jedes Alltagstheater glauben und mitspielen? Welches Theater wird denn jetzt gerade gespielt/aufgetischt/aufgedrängt und vom wem wird es inszeniert? Wer darf mitspielen, wer muss draußen bleiben?
Manche Rollen haben wir nicht selbst gewählt, die Rolle des Säuglings, des Kranken, des Armen, des Sklaven, des Außenseiters, des Arbeitslosen, des Alten, des Dementen, auch die Rolle des Lottogewinners ist nicht planbar. Dennoch können wir entscheiden wie wir mit den Betroffenen und diesen Menschheits-Aufgaben umgehen.
Vielleicht können wir auch eines Tages von dem ganzen Theater Abschied nehmen, wenn wir uns als Weltbürger betrachten, die immer wieder neue Programme lernen. Eine Person, die viele Fähigkeiten erlernt, viele Aufgaben meistert, kann immer wieder andere Rollen einnehmen und ist nicht so festgelegt in einer Rolle.
Jeder entscheidet bewusst oder unbewusst: Will ich im Welttheater als Marionette, Zuschauer, Schauspieler, Drehbuchautor, Regisseur, Architekt, Finanzier, Tyrann, Erlöser oder Held auftreten. Und jeder kann spüren, ob die bisherige Rolle noch passt und entscheiden diese Rolle in der Zukunft nicht mehr zu spielen.
Und wer weiß vielleicht kommt eines Tages eine andere Zeit, in der wir uns erzählen, es war einmal, zu einer Zeit als die Menschen noch Theater spielten….
In diesem Sinne schöne Nikolaustage (apropos Nikolaus, ist das nicht auch schon wieder Theater?)
Gertrud Müller