Herbst und Veränderung

Kürzlich hatte ich wieder eine Vorstellung von Vergänglichkeit und vergangenem Leben. Meine Mutter und meine Tante, beide hochbetagt und bereits sehr vergesslich, trafen sich zum Geburtstag. Auch wenn sie sich kaum mehr unterhalten konnten erkannten sie sich und Bruchstücke aus dem vergangenen Leben, aus vielen schönen Begegnungen und Erlebnissen wurden spürbar.

Am gleichen Tag schaute ich mir im Kino „Past Lives“ an, ein romantischer Film von zwei Menschen, die sich als Kinder sehr liebten und sich durch unterschiedliche Entscheidungen in verschiedenen Welten entwickelten und veränderten.

Leben bedeutet auf der einen Seite Veränderung und Entwicklung und doch bleibt auf der anderen Seite das alte frühere Leben erhalten: in uns in unserer Vergangenheit, in Erinnerungen, in der Erfahrung, in Familien und Beziehungen, in der Sprache, in Kulturen, in Religionen, Ritualen und Gewohnheiten. Jeder einzelne Mensch und alle Gruppen machen diese widersprüchliche Erfahrung der Neuerung und der Tradition.

Wir sind alle lernende Wesen, deshalb verändern wir uns, und wir sind auch Gewohnheitstiere, deshalb behalten und tradieren wir Gewohnheiten, Denkweisen, Verhalten. Wir brauchen beides Neuerungen um lebendig zu bleiben und Gewohnheiten um uns zuhause zu fühlen. Menschen sind sesshaft und Nomaden, der eine mehr Nomade und weniger sesshaft, der andere mehr sesshaft und weniger Nomade. Möglicherweise können die Menschen viel friedlicher zusammenleben, wenn sie sich das eingestehen und zugestehen.

In diesem Sinne wünsche ich uns einen guten Einstieg in den Herbst der uns Veränderungen ankündigt und in dem die Bäume wie jedes Jahr ihre Blätter färben und verlieren

Gertrud Müller

Herrscherzeit, Arbeitszeit, Freizeit, Naturzeit

Seit Jahrtausenden versuchten Menschen die Zeiten zu verstehen, Jahreszeiten für Saat und Ernte, später erkannten Herrscher, dass es Vorteile bringt die Zeit zu messen, Hoheit über die Zeit zu erreichen. Mit Kalender, Sonnenuhren, Wasseruhren ließen sich große Pläne, Bauvorhaben und Kriege zeitlich besser planen und ausführen.

Die Arbeitszeit wurde eingeteilt in Tagewerke, die Tagelöhner an einem Tag erledigen können. Mit Zeitmessungen wird gemessen wer am schnellsten laufen kann. In der Postkutschenzeit wurde Entfernungen mit Wegstrecken (Tagereisen) gemessen. In wieviel Tagesetappen konnte eine Postkutschen ihr Ziel erreichen.

Ab 1650 wurde die Zeitmessung genauer, die Orientierung an der Uhr präzisiert: Die Kirche entwickelte Stundengebete, Kirchturmuhren begannen mehr und mehr die zeitliche Orientierung der Menschen zu prägen. Die Arbeitsstunde wurde geboren, die Arbeiter wurden nicht mehr nach Tagelohn sondern nach Stundenlohn bezahlt.

Nicht mehr Sonnenaufgang und Sonnenuntergang begrenzten die Tage und die Arbeitszeit, sondern die Uhren. Als die ersten Gewerkschaften 1848 gegründet wurden erreichten sie eine gewisse Möglichkeit für Freizeit neben der Arbeit. Neben der Arbeitszeit begann sich die Freizeit immer mehr als feste Größe zu etablieren.

Kriegs- und Wiederaufbauzeiten unterbrachen und veränderten die Entwicklung von Arbeit und Zeit

Ab 1990 wurde es immer attraktiver die Arbeitszeit zu verdichten, das bedeutete in der gleichen Zeit muss der Arbeitnehmer mehr Tätigkeiten verrichten. Ab diesem Zeitpunkt stiegen die Zahlen der psychischen Erkrankungen und auch der Krebserkrankungen. Die junge Generation fordert zu Recht mehr Work-Life-Balance und immer mehr Forschungen (Schlafforschung, Erforschung des Biorhythmus) zeigt, dass die menschlich gemessene Zeit nicht die natürliche Zeit abbildet, die natürlichen Rhythmen sogar oft stört.

Es wird derzeit viel über Nachhaltigkeit, Artenvielfalt gesprochen und die Achtung gegenüber der Natur gefordert, die Zeit vor allem die Naturzeit, die individuelle Zeit von jedem Wesen spielt dabei eine weit unterschätzte Rolle. Jede Blume blüht zu einer anderen Zeit, jede Frucht wird zu anderen Zeiten reif, und auch bei uns Menschen gibt es Menschen mit sehr unterschiedlichen zeitlichen Bedürfnissen. Die Natur diktiert keinem Wesen die Zeit und gibt dennoch Rhythmen, Tages- und Jahreszeiten vor. Gerade in der Freizeit können wir diese Rhythmen der Natur beobachten und genießen, erkennen, dass uns die Natur Zeit lässt. Die Natur verdichtet die Zeit nicht, sondern gibt zeitlichen Spielraum, Die Natur ermahnt uns jedoch auch die geschenkte Zeit weise zu nützen, da auch die natürliche Zeit vergänglich ist.

In diesem Sinne werden wir uns bewusst wie wertvoll oder unsinnig wir unsere Zeit nutzen.

Eine schöne neue Woche mit viel Zeit

Gertrud Müller