Nach ca. sechs Wochen Quarantäne im Seniorenheim durfte ich in dieser Woche das erste Mal mit meiner 91-jährigen Mutter spazieren gehen. Sie ist ganz in der Nähe meiner Wohnung in einer hervorragenden Einrichtung untergebracht. Während dieser Zeit der Quarantäne leisteten die Heimleitung und die Pflegekräfte noch wesentlich mehr als im normalen Ablauf. Sie organisierten im Hof ein Konzert, ermöglichten Videosprechstunden mit Angehörigen, servierten besonders liebevoll zubereitete Mahlzeiten und vieles mehr. Und trotzdem hat sich der Zustand meiner Mutter durch die Isolation drastisch verschlechtert.
Ich war schockiert als ich sie abholte. Ich empfand einen tiefen Weltschmerz und eine große Hilflosigkeit. Beides kenne ich schon aus meiner Kindheit, wenn etwas unveränderlich erschien, aber dieses Mal spürte ich ganz deutlich: Ich will nicht still sein! Ich grübelte stundenlang in der Nacht darüber, was ich tun könnte. Wie könnte ich meinen Schmerz auf wertschätzende und ehrliche Weise ausdrücken? Plötzlich erinnerte ich mich an ein Bild, das meine Mutter und meinen Enkel zeigt.
Nach der Geburt meines Enkels bat meine Tochter mich, niemals ein Foto von ihm in sozialen Netzwerken zu veröffentlichen; als ich ihr jedoch von meiner Idee erzählte, einen offenen Brief über meine Empfindungen und Wahrnehmungen zu schreiben und dieses, für uns so bedeutende Bild, zu veröffentlichen, stimmte sie sofort zu, ebenso meine Mutter.
Und so postete ich in dieser Woche meinen offenen Brief bei Facebook, ich nahm mit der Politikwissenschaftlerin Bettina Geitner ein Video auf und sendete den Brief an das Gesundheitsministerium und an die Süddeutsche Zeitung. Ich bin neugierig darauf, ob eine ungewöhnliche Heilungsgeschichte die Menschen auch heute noch berührt.
Vor drei Jahren lag meine Mutter mit einer schweren Sepsis in einer Klinik. Niemand glaubte, dass sie diese überleben würde. Meine Tochter wohnt in England, sie nahm umgehend den nächsten Flieger und kam mit ihrem Mann und ihrem Kind – meinem kleinen Enkel – in die Klinik. Wir legten behutsam meiner Mutter das Kind ins Bett, das sie so liebte. Und wir staunten! Uroma und Urenkel waren ein Herz und eine Seele und meine Mutter erholte sich jeden Tag ein wenig mehr.
Liebe kann heilen – auch heute noch. Falls Ihr euch für den Brief interessiert, schaut auf Facebook oder schreibt mir, ich sende ihn gerne zu.
In diesem Sinne eine liebevolle neue Woche
Dr. Gertrud Müller