Zurzeit erlebe ich mich als Bürger, wie früher als Teenager. Ich erinnere mich, wie sehr es mich gestört hat, fremdbestimmt zu sein. Immer Vorgaben: Bis 10 Uhr bist du zuhause, mit diesen Leuten triffst du dich nicht, den Wochenausflug können wir nicht erlauben, verhalte dich angepasst, du machst das, was wir sagen, die Regeln sind zu befolgen. Als Jugendliche hatte ich den Ausblick der Volljährigkeit und eine Perspektive. Wenn ich 18 bin, dann entscheide ich selbst wie sich das Leben gut anfühlt!
Klar, als junger Erwachsener trifft man auch Fehlentscheidungen, aber es waren eigene Fehlentscheidungen und bekanntlich wird man aus Fehlern klug und lernt daraus. Genau das können wir jetzt und in jeder anderen Krise lernen. Wir können lernen: wie fühlt sich das Leben gut an, welche Entscheidungen sind nützlich, welche eher schädlich?
Wenn ich zu schnell fahre, kann ich einen Unfall verursachen, wenn ich jemanden beleidige, geht diese Beziehung kaputt, wenn ich unfaire Geschäfte betreibe, vertraut mir niemand mehr. Kinder verstehen diese Wirkungszusammenhänge sehr gut. Können Eltern eigene Fehler eingestehen, versteht ein Kind den Sinn hinter den Erfahrungen der Eltern? Gespräche können als ehrlich wahrgenommen werden und nicht als unnütze Befehle. Ein Kind achtet und ehrt seine Eltern, wenn diese ehrlich und mit Achtung das Kind ins Leben begleiten. Bevormundete, gedemütigte und beschimpfte Kinder achten die Autorität der Eltern nicht mehr.
Von einer Bildung, die Freiheitsrechte und die Würde aller Kinder achtet, sind wir noch weit entfernt, von wertschätzenden Erwachsenen-Kind-Beziehungen ebenfalls. Eine wertschätzende Gesprächs- und Fehlerkultur ist kein Schulfach. Es würde gut in eine Demokratie passen, wenn Stellungnahmen von unterschiedlichen Standpunkten wertschätzend angehört würden.
Im Grundgesetz wird Menschenwürde als unantastbar bezeichnet und ein Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gewährt. Was bedeuten Menschenwürde und freie Entfaltung der Persönlichkeit im Alltag, in Krisenzeiten, in Bildungssystemen, für Pflegekräfte und Schwerkranke? Für Mitarbeiter in Schlachthöfen und in anderen prekären Arbeitsverhältnissen? Gibt es unterschiedliche Würden und Freiheiten für die Menschen? Gibt es eine Menschenwürde und eine Freiheit erster Klasse und einer zweiten Klasse? Wann fühlen sich Menschen gewürdigt?
Diese Krise bietet uns eine einmalige Chance. Wir können darüber sprechen, was Menschenwürde eigentlich ist. Was bedeutet Menschenwürde für dich, für mich? Was bedeutet Menschenwürde für Arme und Reiche, für Bürger, Journalisten, Politiker, Polizisten, für Ärzte und Wissenschaftler? Und was bedeutet Menschenwürde im Umgang mit der Natur?
Photo:Hubert Spiess
Wenn wir in Zukunft als verantwortungsbewusste, gesunde und sozial kompetente Erwachsene zusammenleben wollen, dann müssen wir selbst Sozial- und Lebenskompetenz lernen und den Kindern vermitteln. Lebenskompetenz bedeutet nicht Gehorsam und striktes Einhalten von Regeln. Sozialkompetenz hat nichts mit Beleidigung, Streit und Bevormundung zu tun. Erst wenn wir diesen Unterschied erkennen, werden wir Menschenwürde und Freiheitsrechte, die uns ein Gesetz gewährt, auch erleben. Volljährig wird man laut Gesetz mit einem Lebensalter von 18 Jahren.
Gibt es auch die volljährigen Bürger, die gelernt haben, was Freiheit und Menschenwürde bedeutet? Eines ist sicher, Menschenwürde und Freiheit bedeutet nicht, mit dem Finger auf andere zu zeigen, sondern zuerst selbst zu lernen. Verhalte ich mich gerade würdig gegenüber meinem Mitmenschen, gewähre ich ihm seine Freiheit und achte zugleich meine Freiheit?
In diesem Sinne, eine wertvolle neue Woche auf dem Weg zu einer Gesellschaft mit volljährigen Bürgern.
Gertrud Müller
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