Kürzlich hatte ich wieder eine Vorstellung von Vergänglichkeit und vergangenem Leben. Meine Mutter und meine Tante, beide hochbetagt und bereits sehr vergesslich, trafen sich zum Geburtstag. Auch wenn sie sich kaum mehr unterhalten konnten erkannten sie sich und Bruchstücke aus dem vergangenen Leben, aus vielen schönen Begegnungen und Erlebnissen wurden spürbar.
Am gleichen Tag schaute ich mir im Kino „Past Lives“ an, ein romantischer Film von zwei Menschen, die sich als Kinder sehr liebten und sich durch unterschiedliche Entscheidungen in verschiedenen Welten entwickelten und veränderten.
Leben bedeutet auf der einen Seite Veränderung und Entwicklung und doch bleibt auf der anderen Seite das alte frühere Leben erhalten: in uns in unserer Vergangenheit, in Erinnerungen, in der Erfahrung, in Familien und Beziehungen, in der Sprache, in Kulturen, in Religionen, Ritualen und Gewohnheiten. Jeder einzelne Mensch und alle Gruppen machen diese widersprüchliche Erfahrung der Neuerung und der Tradition.
Wir sind alle lernende Wesen, deshalb verändern wir uns, und wir sind auch Gewohnheitstiere, deshalb behalten und tradieren wir Gewohnheiten, Denkweisen, Verhalten. Wir brauchen beides Neuerungen um lebendig zu bleiben und Gewohnheiten um uns zuhause zu fühlen. Menschen sind sesshaft und Nomaden, der eine mehr Nomade und weniger sesshaft, der andere mehr sesshaft und weniger Nomade. Möglicherweise können die Menschen viel friedlicher zusammenleben, wenn sie sich das eingestehen und zugestehen.
In diesem Sinne wünsche ich uns einen guten Einstieg in den Herbst der uns Veränderungen ankündigt und in dem die Bäume wie jedes Jahr ihre Blätter färben und verlieren
Gertrud Müller