Der emanzipierte Mensch

Seit letztem Jahrhundert sprechen wir davon, dass sich Frauen emanzipieren. Diese Woche hörte ich einen Bericht über ein Gewalttelefon für Männer. Es gilt immer noch als Tabu, dass auch Männer von Gewalt betroffen sind und Opfer von weiblichen Gewalttaten werden. Esther Vilar schrieb vor vielen Jahren das Buch ”Der dressierte Mann”. Wir erleben in dieser Welt häufig Paradoxien: Menschen lieben die Freiheit und kultivieren Dressur.

Wir dressieren Tiere, wir dressieren Bürger, wir dressieren Kinder, seit neuestem dressieren wir die Natur. Die Tiere durchschauen die Dressurakte des Menschen nur anfangs, später gewöhnen sie sich daran, die Hunde folgen ihrem Herrchen, das Pferd dem Reiter. Die Kühe stellen sich artig in den Stall und auf die Weide. Schafe, sagt man, lassen sich sogar ganz artig zu Schlachtbank führen. Menschen sind schlauer, sie durchschauen Dressurakte mit der Zeit und versuchen Knechtschaft und Gefängnisse zu überwinden.

Moses führte sein Volk aus Ägypten, Revolutionäre befreiten sich von grausamen Herrschern, alte unterdrückende Vorstellungen, werden immer wieder überholt wie die Apartheid, der Kolonialismus und die Sklaverei. Dennoch hält sich der Mythos immer noch hartnäckig, dass Menschen einander korrigieren müssen.  Bürger müssen diszipliniert werden, Schüler müssen belehrt und erzogen werden. Die Ungläubigen werden bekehrt, Völker unterjocht und Arbeiter zur Arbeit gezwungen. Parteimitglieder müssen sich einem Fraktionszwang unterordnen und Außergewöhnliche müssen normalisiert und eingeordnet werden. Dressurakte funktionieren mit Angst, Zuckerbrot und Peitsche, mit Manipulation, mit Geld, mit Korruption, mit Bestechung und aus Gewohnheit. Damit die Menschen diese menschlichen Dressurakte nicht so leicht durchschauen, erhalten sie euphemistische Bezeichnungen: Religion, Kultur, Dienstleistung, Arbeitsverträge, Tradition, Besitzstandwahrung, Rechtsstaat, Nationalstaat, Gesetze, Hierarchie, Gesellschaftsordnung, Kommunismus, Partei, Status, usw.

Leben wir in der Moderne wirklich in freien Gesellschaften? Sind wir Menschen reif und fähig frei zu leben? Wie viele tausende Jahre werden wohl noch vergehen bis die Menschheit ihre wechselseitige Dressurleidenschaft überwindet? Oder verändern wir immer nur das Vokabular und dressieren weiter? Wie könnte eine freie Gesellschaft aussehen? Vielleicht können wir uns darüber mal Gedanken machen, bevor uns die nächsten Dressurakte wieder einholen.

Es wäre ja zu mindestens denkbar, dass wir uns überlegen, ob eine Kultur der Freiheit, in der wir Menschen uns gegenseitig achten, wertschätzen und ehrlich miteinander umgehen, eine Alternative zu den derzeitig weit verbreiteten Dressurgesellschaften wäre. Eines ist sicher: bisher schaffen wir es zeitweise, uns gegenseitig zu achten und zu respektieren, vielleicht ist das ja noch ausbaufähig.

In diesem Sinne wünsche ich uns alle eine emanzipierte Woche, in der wie uns gegenseitig in unserer Andersartigkeit achten und respektieren.

Gertrud Müller