Baby-Boomer

Diese Woche las ich einen Artikel von jungen Leuten, die darüber lästerten wie unmöglich die Baby-Boomer Generation sei: Ich gehöre auch dazu. Ja ich muss den jungen Leuten Recht geben, es sind teilweise schwierige und unflexible Charaktere in dieser Generation. Aber ist das nicht in der jungen Generation auch so? Sind alle jungen Leute edel, hilfreich und gut? Sind alle Senioren weise und abgeklärt?
Schon Sigmund Freud stellte fest, dass uns der Zeitgeist und die jeweilige Kultur mehr prägt als uns das oft lieb ist. Ich denke trotz aller Negativität an viele Erinnerungen, die mich prägten und mich angeregten weiter zu lernen und mich weiter zu entwickeln. Mit Traurigkeit erinnere ich mich, an die strengen 60er Jahre, in der Schläge normal waren und keinerlei Widerrede erlaubt war, weder in der Familie, noch in der Schule. Dann kamen die ausgeflippten 68er in der sich viele plötzlich alles rausnahmen was vorher verboten war. Viele Elternhäuser blieben dennoch sehr streng und was zu frei war wurde politisch unter Terrorverdacht gestellt. Sehr gut sind mir die angepassten jungen Leute der Generation Golf in der 70er und 80er Jahren in Erinnerung.
Ich machte meinen Schulabschluß, fuhr einen uralten VW Käfer, den ich häufig selbst reparierte, wurde Schwesternschülerin und ich war mit vielem nicht einverstanden was uns erzählt wurde.
In den 80er Jahren gelang mir der erste Ausbruch aus den strengen Normen, durch meine (unerlaubte) Heirat und die Geburt meiner Kinder glaubte ich es besser machen zu können. Weit gefehlt trotz all meines Bemühens folgte die Scheidung und stellte mich vor große Herausforderungen.
Durch meinen Beruf war mein Leben immer von Krankheit begleitet, auch wenn ich selbst sehr gesund und robust bin. Die Krankheit Aids wurde entdeckt, in der Medizin erlebte ich Errungenschaften wie Organtransplantationen und Skandale, wie den Conterganskandal Medikamente kamen und mussten wieder vom Markt genommen werden.
Ich versuchte in dem Aufbruch der Nachhippiezeit, während des kalten Krieges und der religiösen Indoktrination einen Weg zu finden meinen Kindern ein liebevolles Zuhause zu geben. Ich marschierte bei den ersten Friedensdemos mit in der Hoffnung, dass es neue Zeiten geben könnte. Tschernobyl markierte die ersten Zweifel an der Allesistmöglich-Phantasie des modernen Menschen.
Gut erinnere ich mich an meine persönliche und berufliche Neuorientierung: Medizin ohne die Seele des Menschen war für mich keine Lösung. Ich studierte Soziologie und Psychologie und bemühte mich viel gute Zeit mit der Familie zu erleben.
Der Fall der Mauer war wieder eine große Hoffnung, dass eine neue Zeit anbrechen würde. Der Jugoslawienkrieg zeigte mit aller Deutlichkeit, dass dem wieder nicht so war.
Meine Kinder entwickelten sich gut, ich lernte neue alternative Bildungskonzepte kennen und wir versuchten so gut es ging ökologisch zu leben.
Dem Jahr 2000 fieberten wir alle entgegen, würden die Computer die Umstellung schaffen? Was wird das neue Millenium bringen. Wir hofften und feierten ausgelassen auf der Leopoldstraße den Beginn des neuen Jahrhunderts. Wieder sollte alles besser werden, Ziele wie den Welthunger zu besiegen und nachhaltiger Frieden wurde uns versprochen.
Sehr schnell wurde klar, dass es wieder nicht so ist: 9/11 erschütterte die Welt, der Afghanistankrieg begann, der Euro brachte in Europa nicht die Stabilität, die er versprach. Zudem kamen die Herausforderungen, die viele durch die Digitalisierung erlebten.
Ein Tsunami und der arabische Frühling erschütterte die Welt; genau wie der Irakkrieg markierte die Finanzkrise die Gefahren der Moderne.
Trotz all der Wirren und Veränderungen bemühte ich mich stets in meiner kleinen Welt, es besser zu machen, Frieden zu schaffen in Familie und Beruf. Ich lernte besser zuzuhören, verständnisvoller zu sein, bildete mich kontinuierlich weiter und unterstützte meine Kinder und meine Mitmenschen so gut es ging.
In den Jahren 2010-2020 heiratete meine Tochter, ich durchlebte selbst eine schwere Krankheit und einen beruflichen Neubeginn in meiner Praxis als Psychoonkologin, mein erster Enkel wurde geboren. In der großen Weltpolitik wurde die Finanzkrise spürbar.
Die Flüchtlingskrise zeigte, dass Kriege ihre Spuren hinhinterlassen und seit der Ära Donald Trump sind Fake News bekannt und salonfähig.
Seit dem Jahr 2020 habe ich zwei weitere Enkelkinder bekommen, die mir sehr viele Glücksmomente bescheren. Corona erschütterte die Welt, die Spaltungen und Kämpfe in der Welt nehmen zu und mit den aktuellen Umweltproblemen und geopolitischen Spannungen wissen wir nicht wie es weitergeht.
Wird es die Menschheit schaffen zu überleben? Trotz aller Krisen und Desaster habe ich als Babyboomer viel gelernt: Es wird viel versprochen, viel geschrien, viel protestiert und modernisiert und dennoch wird weiter eine feindselige, kriegerische Kultur tradiert. Und ich habe gelernt nicht alles mit zumachen, nicht alles zu glauben was erzählt wird. Trotz oder gerade wegen einer feindseligen Welt lerne ich weiter in Frieden zu leben und mich an dem zu freuen was möglich ist: jeder neue Tag ist ein Geschenk und jeder Augenblick bietet die Chance es wieder ein wenig besser zu machen.
In diesem Sinn eine gute neue Woche Gertrud Müller